BAUWELT JG.:87, NR.10, MARZ 1996

Schule der Zeitlosigkeit (Ecole de l'intemporalité)
(seite 506-509)

Das Museum in Arles und die „ neomodernistische “ Raumauffassung in Frankreich
(Le musée d'Arles et le concept d'espace neo-moderne en France)

Der Mann, der die Planung des supermodernen, zweiten Stadtzentrums von Lille organisiert hat, Jean-Paul Baïetto, prägte einen koketten Begriff für eine typisch französische Fähigkeit: ,
„Dynamique d'Enfer“ – höllische Dynamik also – müsse man entfesseln können, um angesichts der weltweiten Städtekonkurrenz Kräfte und Kapital für groß und aufwendige Bauvorhaben flüssig zu machen. Die Retortencity „Euralille“ als hochverdichteter Verkehrsknoten innerhalb von wenigen Jahren gebaut, konnte so in Europa nur in Frankreich realisiert werden.
Einem solchen globalen Wettrennen um neue Programme und neue Formen kann der Architekt Henri Ciriani nichts abgewinnen. Er fürchte nichts so sehr, äußerte er sich jüngst in Casabella, wie die Wechselwirkung von Globalisierung und Einförmigkeit im Bauen. Von „Dynamique d'Enfer“ konnte auch keine Rede sein bei der Realisierung seines bisher wichtigsten Gebäudes, des Museums für Archäologie im südfranzösischen Arles. Eine geradezu „biblische“ Planungsund Realisierungszeit – zurückzuführen auf Finanzierungs- und Organisationsprobleme – mußte der von Henri Ciriani entworfene Bau durchmachen.
Als die Bauwelt das Gebäude Ende 1993 (Heft 43) kurz vorstellte, waren fast zehn Jahre seit dem Wettbewerbserfolg vergangen. Das Museum stand damals vor der Fertigstellung, die großen archäologischen Exponate, die integraler Bestandteil der Museumsarchitektur sind, waren aber noch nicht installiert. Es sollte noch einmal anderthalb Jahre dauern, bis der Bau schließlich eingeweiht werden konnte.
Die nach einer zwölfjährigen Odyssee schließlich zum Abschluß gekommene Entstehungsgeschichte des Museums liest sich im Rückblick wie eine Bestätigung für die bekannte Hartnäckigkeit seines Architekten. Vor knapp dreißig Jahren hatte dieser in Paris eine Bewegung mitgegründet, die an das Formenvokabular der frühen Moderne, insbesondere an Le Corbusier anknüpfte. Ciriani hat diese Ideen seither zu einem genau kalkulierten, akakemischen Gestaltungssystem weiterentwichelt, das den swischenzeitlichen Stilwechseln der französischen Architektur ungeeinflußt getrotzt hat. Er – und mit ihm eine Reihe von jüngeren Architekten – ist auf der Suche nach dem richtigen, dem „perfekten “ und damit auch zeitlosen Ausdruck des gebauten Raums. Wer ein solches Ziel anvisiert, lä„t sich durch die Unbill einer langen Bauzeit nicht aus der Ruhe bringen. Noch während der Bauphase kommentierte Ciriani den schleppenden Planungsproze„. Dieser sei hilfreich gzwesen im Sinn einer Parfetionierung des Entwurfsidee: „Die lange Entwicklungszeit trug dazu bei, die Schlüssigkeit der dreieckigen Grundri„“ figur zu überprüfen“ (AA Nr.282).
Das Museum in Arles steht für eine Entwurfs auffassung, die den Begriff „Moderne“ ganz bewußt nicht auf dieGegenwart bezieht. Denn die heute von außen an das Bauen herangetratgenen Veränderungen – u.a. neue Technologien und neue Programme – pressen der Architektur, so Ciriani, ständig neue Kompromisse in bezug auf die Raumqualität ab.  Abhilfe kann nur der rückwärtsgewandte Blick auf das Verständnis von architektonischem Raum bieten, das in der frühen Moderne entwickelt wurde und das die plastische Durchformung des Baukörpers in den Vordergrund stellte. Dieser Anspruch an eint stilistisches Ideal führt allerdings beim Entwerfen zu einer doppeldeutigen Haltung, wie am Musum in Arles deutlich wird.
Einerseits spielt der Architekt in diesem Bau mit außerordentlicher Raffinesse das Motiv der „offenen Fassaden“ durch; er entwickelt einen mehrschichtigen, in die Tiefe gehenden Raum, der den Besucher mit einem ganzen Bündel optischer Eindrücke ins Innere einlädt: Statt einer Fassade gibt es eine blauglänzende Wandfläche, aus der weiße Körper wie mit dem Meißel herausgearbeiten sind. Zusammen mit einer langen Diagonalen und weiteren kubischen Elementen addieren sie sich zu einem langen  Wandgemälde, das an verschiedenen Stellen begtangen und durchschritten werden kann. Die Eingänge in das große Haus sind nicht bloß Ausschnitte in des Wand, sondern expressive Gesten aus grazilen, sich über den Köpfen der Besucher kreuzenden Verlängerungen der Gebäudekanten, unter denen man langsam ins Gebäude eintaucht. Im Inneren des Museums entstand ein Raumgefüge, bei dem Stützen, Wände und Fenster scheinbar losgelöst und frei von dem Dach mit seinen vielfältigen Offnungen und Oberlichtern konzipiert wurden. Der Anspruch des Architekten ist unübersehbar: das Kompositionsprinzip eines subtilen  „Plan Libre“ umzusetzen und den Besucher auf seiner Entdeckungsreise des Museums durch eine Abfolge privilegierter Ausblicke auf die Architektur zu fesseln.
Im Gegensatz zu dieser räumlichen Durchlässigkeit der Architecktur ist das Haus städtebaulich ein Solitär, der zu seiner Umgebung keinen Kontakt aufnimmt. Des städtebauliche  Anachronismus der Dreiecksform ist evident. Aus der Luft betrachtet wirkt das Museum  wie ein zu groß geratenes, monumentales „Zeichendreieck“, das die kleinteilige Stadtstruktur von Arles nicht integrieren wollte und deshalb vor die Tore der Stadt bugsiert hat.
Doch eine solche Kritik verkennt, daß es gerade die Verwendung der Dreiecksform war, die für den Architekten die eigentliche Herausforderung bei seinem Entwurfskonzept darstellte. Erst die Wahl der srpöden und entwurfstehnisch schwierigen Dreiecksform gab den Anlaß, aus einer starren Geometrie die Vielfalt einse architektonischen Kristalls zu entwickeln. Es ist diese Faszination für die Arbeit mit räumlichen VOlumen, die auch die anderen in diesem Heft gezeigten französischen Beispiele auszeichnet. Das Entwurfskonzept, dem sie anhängen, ist introvertiert und heroisch. Es schwelgt in einer Raumauffassung, die von innen nach außen entwickelt ist und dabei zwangsläufig mit der Realität der Außenwelt kollidiert.

(Kaye Geipel)

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